Ein Spin-Off der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
27. Jahrgang (2024) - Ausgabe 4 (April) - ISSN 1619-2389
 

Aufbruch ins Paradies oder Flucht in eine unsichere Zukunft? - Chancen und Risiken deutscher Unternehmen in Osteuropa

Interview mit Dr. Lutz Mackebrandt von Frank Roselieb und Marion Dreher

Überblick

Rund 460.000 Arbeitsplätze hatten deutsche Firmen bereits vor der Erweiterung der Europäischen Union zum 1. Mai 2004 in Osteuropa geschaffen. 44 Prozent aller deutschen Unternehmen haben bereits Betriebsteile dorthin verlegt oder planen, es in der nächsten Zeit zu tun (Quelle: www.ifo.de). Was vor einigen Jahren noch als Abenteuertrip in einen rechtsunsicheren Raum galt, wird heute von immer mehr deutschen Arbeitgebern als einzige Möglichkeit gesehen, auf längere Sicht konkurrenzfähig zu bleiben.

Sind die EU-Beitrittsländer in der Tat das Erfolg verheißende Paradies für deutsche Unternehmer, oder verbergen sich in diesem "Mekka" noch unentdeckte Risiken und Schattenseiten? Wie sollte sich ein deutsches Unternehmen vor dem Aufbruch nach Osteuropa rüsten, und welche Betriebe haben die größten Chancen, dort erfolgreich Fuß zu fassen? Welche Konsequenzen hat eine Ostverlagerung letztendlich für die Mutterunternehmen und die deutschen Stammsitze?

Dr. Lutz Mackebrandt aus Berlin, Gründungsgesellschafter der CMS Societät für Planung und Beratung GmbH (heute: CMS Societät für Unternehmensberatung AG), ist schon seit vielen Jahren mit einer Niederlassung in Sofia vertreten und verfügt über profunde Kenntnisse des osteuropäischen Markts. Im Gespräch mit dem Krisennavigator erläutert der Vizepräsident des Bundesverbands Deutscher Unternehmensberater BDU e.V., welche Chancen sich Unternehmen bei einem Engagement in dieser Region bieten und welche Risiken dabei zu beachten sind. Die Fragen stellten Dipl.-Kfm. Frank Roselieb und Dipl.-Psych. Marion Dreher vom Krisennavigator – Institut für Krisenforschung in Kiel.

"Osteuropa ist nicht gleich Osteuropa. Die Bedingungen in
den einzelnen Ländern variieren zum Teil erheblich."

Krisennavigator: Die "Go East"-Begeisterung deutscher Unternehmer scheint keine Grenzen zu kennen. Was raten Sie Betrieben, die den Gang nach Osteuropa planen, damit sich die erhofften Erfolge tatsächlich einstellen?

Dr. Mackebrandt: Zunächst sollten die Betriebe die individuellen Kosten und den individuellen Nutzen einer Standortverlagerung sehr genau abwägen. Nur weil Osteuropa für einige Unternehmen vorteilhafte Produktionsbedingungen bietet, muss dies nicht zwangsläufig auch für die eigene Firma und für die eigenen Produkte gelten. Beispielsweise steht für viele Unternehmen aus der Nahrungsmittelindustrie eine Standortverlagerung nach Osteuropa nicht zur Diskussion, weil allein die Transportkosten der Rohstoffe hin zur Verarbeitung nach Osteuropa und die der Fertigwaren zurück auf die heimischen Absatzmärkte die möglichen Arbeitskostenvorteile bei weitem übersteigen würden. Demgegenüber lohnt sich für viele Zulieferer großer Automobilkonzerne eine Verlagerung nach Osteuropa allein deshalb, weil dort bereits zahlreiche Automobilhersteller mit eigenen Fertigungsstätten vor Ort sind oder bereits Zulieferbetriebe nachgezogen haben, die ihrerseits wieder Vorprodukte nachfragen, und somit - neben Arbeitskostenvorteilen - auch Transportkostenersparnisse genutzt werden können. Außerdem ist Osteuropa natürlich nicht gleich Osteuropa. Die Bedingungen in den einzelnen Ländern variieren zum Teil erheblich. In Tschechien summieren sich die Unternehmenssteuern mittlerweile auf stolze 26 Prozent, während sie in Litauen gerade einmal 13 Prozent betragen. Ebenso individuell sind die länderspezifischen Regelungen und Genehmigungsverfahren. Aus Angst vor einem Ausverkauf seiner preiswerten Ländereien in Westpolen hat das Land bei der EU einen siebenjährigen Aufschub für den freien Verkauf von Grund und Boden an Ausländer erwirkt. Noch komplizierter sind die Regelungen in den Noch-Nicht-EU-Mitgliedsländern Osteuropas - beispielsweise in Rumänien und Bulgarien. Die Vielzahl höchst individueller bilateraler Abkommen und Regularien kann den Waren- und Geldverkehr, aber auch die Markterschließung zuweilen stark erschweren.

Krisennavigator: Um sich den Zugang zum osteuropäischen Markt zu erleichtern, gehen viele westliche Unternehmen Kooperationen mit ortsansässigen Firmen ein. Viele davon sind allerdings gedanklich und strukturell noch nicht in der Marktwirtschaft angekommen. Wie können deutsche Unternehmer sicherstellen, dass sie nicht an die "falschen" Kooperationspartner geraten?

Dr. Mackebrandt: Als Berater liegt es natürlich nahe, dass ich dringend empfehlen würde, externe Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hilfreich sind Unternehmensberater mit ausgewiesener Länder- und Methodenkompetenz genauso wie Gespräche mit der Auslandshandelskammer vor Ort, der dort ansässigen deutschen Botschaft und den hiesigen Botschaften der Zielländer. Mit etwas Glück ist auch die Hausbank im Zielland mit einer Niederlassung vertreten. Nützliche Ratschläge und zum Teil geprüfte Kontaktempfehlungen halten weiterhin mehrere öffentliche Internet-Portale bereit - beispielsweise www.ixpos.de und www.e-trade-center.com von der Bundesagentur für Außenwirtschaft. Bei der Überprüfung eines potenziellen Kandidaten sollte neben den "harten" Faktoren - wie zum Beispiel seiner finanziellen Stabilität - stets auch auf die "weichen" Faktoren geachtet werden. Wie sah der Weg des Unternehmens und der seiner Führung vor dem Fall des eisernen Vorhangs aus? Gibt es möglicherweise politische Altlasten der Akteure, die man besser kennen sollte? Wurde schließlich der ideale Kooperationspartner gefunden, sind vor allem klare Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums und zu dessen wechselseitiger Nutzung festzulegen. Hierbei erweisen sich insbesondere Schiedsklauseln als praktikabel, denn in Osteuropa bei Streitigkeiten den Gerichtsweg einzuschlagen, kann mitunter recht langwierig und wenig erfolgversprechend sein.

"Der Aufbruch in den Osten darf kein Rettungsversuch sein,
um das angeschlagene Mutterunternehmen zu sanieren."

Krisennavigator: Neben dem Justizwesen scheint auch die öffentliche Verwaltung den Anpassungsprozess noch lange nicht abgeschlossen zu haben. Gleichwohl kommen Investoren aus Westeuropa nicht selten mit falschen Vorstellungen in den EU-Beitrittsländern an. Auf welche Risiken müssen sich deutsche Unternehmer in Osteuropa gefasst machen?

Dr. Mackebrandt: Natürlich existieren die normalen unternehmerischen Risiken westlicher Märkte auch in Osteuropa. Hierzu zählen Forderungsausfälle genauso wie illoyale Mitarbeiter. Daneben werden Firmen in Osteuropa aber auch mit Risiken konfrontiert, die in Westeuropa weniger relevant sind. Schenkt man neueren Untersuchungen Glauben, so soll die Korruption in Polen schlimmer sein als auf Kuba oder in El Salvador. Auch Geldwäsche, Subventionsbetrug, Produktpiraterie und die Organisierte Kriminalität sind in Osteuropa wesentlich weiter verbreitet als in vielen westeuropäischen Staaten. Wenig transparent sind zuweilen die Entscheidungen der Verwaltung. Schnelle, unorthodoxe und unbürokratische Regelungen, die deutschen Unternehmen heute den Standortwechsel schmackhaft machen, können schon morgen ebenso schnell, unorthodox und unbürokratisch geändert werden. Ohne lokale Partner vor Ort wird es deutschen Unternehmen schwer fallen, ein Netzwerk mit entsprechenden Frühwarnindikatoren vor "bürokratischen Diskontinuitäten" aufzubauen oder auch nur ein hinreichendes landeskundliches Verständnis für die Mentalitäts- und Verhaltensunterschiede im Zielland zu entwickeln.

Krisennavigator: Während große Unternehmen meist nur einen zusätzlichen Standort in Osteuropa eröffnen, verlagern kleine und mittelständische Betriebe zum Teil ihre gesamte Produktion dorthin. Was sollten gerade diese Betriebe berücksichtigen, damit sie durch ihr Engagement im Osten ihre Basis im Inland nicht unnötig schwächen?

Dr. Mackebrandt: Sicherlich darf der Aufbruch in den Osten kein Rettungsversuch des Mutterunternehmens sein, einen angeschlagenen Betrieb im Inland zu sanieren. Schließlich ist die Verlagerung ganzer Produktionsanlagen in Richtung Osten kein Wohnungsumzug in das Haus gegenüber, sondern ein erheblicher logistischer Kraftakt. In der Regel übersteigen die hohen Anlaufverluste die unmittelbar realisierbaren Kosteneinsparungen durch niedrigere Löhne, Mieten etc. in der Anfangszeit um ein Vielfaches. Der Versuch, anhaltende Verluste im Inland durch ad-hoc-Gewinne im Ausland kurzfristig zu kompensieren, muss somit zwangsläufig scheitern. Außerdem liegen die wirklichen Krisenursachen von Betrieben nur selten in den angeblich zu hohen Lohnkosten. Meistens stimmen die strategische Ausrichtung und die operative Marktbearbeitung des Unternehmens nicht mehr. Gerade kleine und mittelständische Betriebe unterschätzen vielfach auch die Folgekosten einer Betriebsstättenverlagerung. Mal werden ganze Produktionsstraßen in den Osten geschafft, ohne dass vor Ort ausreichend Servicetechniker des Maschinenlieferanten für den Notfall vorhanden sind. Mal fehlt es im Zielland an einem leistungsfähigen Beschaffungsmarkt, so dass Rohstoffe und Vorprodukte aus dem Heimatland an den neuen Standort transportiert werden müssen. Auch die Überbrückung der räumlichen Trennung zwischen Forschung und Entwicklung im Inland und Fertigung im Ausland ist keineswegs eine triviale Aufgabe.

"Die EU-Beitrittsländer werden letztlich daran gemessen, inwieweit
sie auch langfristig ein positives Investitionsklima schaffen."

Krisennavigator: Schon heute verlagern ungarische Unternehmen Teile ihrer Produktion nach Rumänien, weil dort die Lohnkosten zur Zeit noch niedriger sind. Könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass die derzeitigen Standortvorteile osteuropäischer Länder gegenüber Westeuropa schon bald nicht mehr bestehen werden?

Dr. Mackebrandt: Die internationale Arbeitsteilung entwickelt sich rasant. Die Zeiträume, in denen Standortvorteile überdacht werden sollten, verkürzen sich rapide. Gleichwohl wäre es zu kurzsichtig, die Wahl des Standorts nur am Faktor "Lohnkosten" festzumachen. Sicherlich sind die durchschnittlichen Lohnkosten in Rumänien niedriger als in Ungarn. Selbst in Ungarn betragen sie im Durchschnitt gerade einmal ein Sechstel des deutschen Werts. Wenn man den diversen Prognosen glauben darf, werden sie sich nur relativ langsam dem westlichen Niveau annähern, so dass Osteuropa auf absehbare Zeit für viele westliche Unternehmen ein reizvoller Standort bleiben wird. Doch nur auf die Lohnkosten zu schauen, wäre zu kurz gedacht. Auch ein noch unerschlossener Markt vor Ort oder momentane steuerliche Vorteile müssen nicht von Dauer sein. Letztendlich werden die EU-Beitrittsländer daran gemessen, inwieweit sie die Aufgaben der Bestandspflege meistern und auch langfristig ein positives Investitionsklima schaffen.

Krisennavigator: Trotz der derzeitigen Aufbruchsstimmung und Gründungseuphorie sind Unternehmenszusammenbrüche auch in Osteuropa nicht auszuschließen. Können sich deutsche Unternehmen - als Gläubiger wie als Schuldner - dort auf ein geregeltes Insolvenzverfahren verlassen?

Dr. Mackebrandt: Momentan deuten alle Zeichen auf eine voraussichtliche Gültigkeit des europäischen Insolvenzrechts auch in den EU-Beitrittsländern hin. Wichtiger als das Insolvenzrecht ist jedoch ein systematisches Kreditorenmanagement, um einen Forderungsausfall möglichst zu vermeiden. Die Zahlungen aus der Insolvenzquote werden in aller Regel keinen wirklichen Trost spenden. Gerade die oftmals schwierige Durchsetzung gerichtlicher Forderungen in vielen Ländern Osteuropas - wegen Mängeln im Justizwesen und der deutlich schlechteren Zahlungsmoral - sollten dazu anregen, in diesen Märkten besonders umsichtig zu agieren. Auslandsaktivitäten machen das Leben eben nicht grundsätzlich einfacher - insbesondere nicht für kleine und mittelständische Unternehmen.

Krisennavigator: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Ansprechpartner

Dr. Lutz Mackebrandt
CMS Societät für Unternehmensberatung AG
Düsseldorfer Straße 38
D-10707 Berlin
Telefon: +49 (0)30 20 64 37 - 0
Telefax: +49 (0)30 20 64 37 - 270
Internet: www.cms-ag.de
E-Mail: lutz.mackebrandt@cms-ag.de

Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
7. Jahrgang (2004), Ausgabe 10 (Oktober)


Vervielfältigung und Verbreitung - auch auszugsweise - nur mit ausdrücklicher
schriftlicher Genehmigung des Krisennavigator - Institut für Krisenforschung, Kiel.
© Krisennavigator 1998-2024. Alle Rechte vorbehalten. ISSN 1619-2389.
Internet:
www.krisennavigator.de | E-Mail: poststelle@ifk-kiel.de

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Aufbruch ins Paradies oder Flucht in eine unsichere Zukunft? - Chancen und Risiken deutscher Unternehmen in Osteuropa

Interview mit Dr. Lutz Mackebrandt von Frank Roselieb und Marion Dreher

Überblick

Rund 460.000 Arbeitsplätze hatten deutsche Firmen bereits vor der Erweiterung der Europäischen Union zum 1. Mai 2004 in Osteuropa geschaffen. 44 Prozent aller deutschen Unternehmen haben bereits Betriebsteile dorthin verlegt oder planen, es in der nächsten Zeit zu tun (Quelle: www.ifo.de). Was vor einigen Jahren noch als Abenteuertrip in einen rechtsunsicheren Raum galt, wird heute von immer mehr deutschen Arbeitgebern als einzige Möglichkeit gesehen, auf längere Sicht konkurrenzfähig zu bleiben.

Sind die EU-Beitrittsländer in der Tat das Erfolg verheißende Paradies für deutsche Unternehmer, oder verbergen sich in diesem "Mekka" noch unentdeckte Risiken und Schattenseiten? Wie sollte sich ein deutsches Unternehmen vor dem Aufbruch nach Osteuropa rüsten, und welche Betriebe haben die größten Chancen, dort erfolgreich Fuß zu fassen? Welche Konsequenzen hat eine Ostverlagerung letztendlich für die Mutterunternehmen und die deutschen Stammsitze?

Dr. Lutz Mackebrandt aus Berlin, Gründungsgesellschafter der CMS Societät für Planung und Beratung GmbH (heute: CMS Societät für Unternehmensberatung AG), ist schon seit vielen Jahren mit einer Niederlassung in Sofia vertreten und verfügt über profunde Kenntnisse des osteuropäischen Markts. Im Gespräch mit dem Krisennavigator erläutert der Vizepräsident des Bundesverbands Deutscher Unternehmensberater BDU e.V., welche Chancen sich Unternehmen bei einem Engagement in dieser Region bieten und welche Risiken dabei zu beachten sind. Die Fragen stellten Dipl.-Kfm. Frank Roselieb und Dipl.-Psych. Marion Dreher vom Krisennavigator – Institut für Krisenforschung in Kiel.

"Osteuropa ist nicht gleich Osteuropa. Die Bedingungen in
den einzelnen Ländern variieren zum Teil erheblich."

Krisennavigator: Die "Go East"-Begeisterung deutscher Unternehmer scheint keine Grenzen zu kennen. Was raten Sie Betrieben, die den Gang nach Osteuropa planen, damit sich die erhofften Erfolge tatsächlich einstellen?

Dr. Mackebrandt: Zunächst sollten die Betriebe die individuellen Kosten und den individuellen Nutzen einer Standortverlagerung sehr genau abwägen. Nur weil Osteuropa für einige Unternehmen vorteilhafte Produktionsbedingungen bietet, muss dies nicht zwangsläufig auch für die eigene Firma und für die eigenen Produkte gelten. Beispielsweise steht für viele Unternehmen aus der Nahrungsmittelindustrie eine Standortverlagerung nach Osteuropa nicht zur Diskussion, weil allein die Transportkosten der Rohstoffe hin zur Verarbeitung nach Osteuropa und die der Fertigwaren zurück auf die heimischen Absatzmärkte die möglichen Arbeitskostenvorteile bei weitem übersteigen würden. Demgegenüber lohnt sich für viele Zulieferer großer Automobilkonzerne eine Verlagerung nach Osteuropa allein deshalb, weil dort bereits zahlreiche Automobilhersteller mit eigenen Fertigungsstätten vor Ort sind oder bereits Zulieferbetriebe nachgezogen haben, die ihrerseits wieder Vorprodukte nachfragen, und somit - neben Arbeitskostenvorteilen - auch Transportkostenersparnisse genutzt werden können. Außerdem ist Osteuropa natürlich nicht gleich Osteuropa. Die Bedingungen in den einzelnen Ländern variieren zum Teil erheblich. In Tschechien summieren sich die Unternehmenssteuern mittlerweile auf stolze 26 Prozent, während sie in Litauen gerade einmal 13 Prozent betragen. Ebenso individuell sind die länderspezifischen Regelungen und Genehmigungsverfahren. Aus Angst vor einem Ausverkauf seiner preiswerten Ländereien in Westpolen hat das Land bei der EU einen siebenjährigen Aufschub für den freien Verkauf von Grund und Boden an Ausländer erwirkt. Noch komplizierter sind die Regelungen in den Noch-Nicht-EU-Mitgliedsländern Osteuropas - beispielsweise in Rumänien und Bulgarien. Die Vielzahl höchst individueller bilateraler Abkommen und Regularien kann den Waren- und Geldverkehr, aber auch die Markterschließung zuweilen stark erschweren.

Krisennavigator: Um sich den Zugang zum osteuropäischen Markt zu erleichtern, gehen viele westliche Unternehmen Kooperationen mit ortsansässigen Firmen ein. Viele davon sind allerdings gedanklich und strukturell noch nicht in der Marktwirtschaft angekommen. Wie können deutsche Unternehmer sicherstellen, dass sie nicht an die "falschen" Kooperationspartner geraten?

Dr. Mackebrandt: Als Berater liegt es natürlich nahe, dass ich dringend empfehlen würde, externe Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hilfreich sind Unternehmensberater mit ausgewiesener Länder- und Methodenkompetenz genauso wie Gespräche mit der Auslandshandelskammer vor Ort, der dort ansässigen deutschen Botschaft und den hiesigen Botschaften der Zielländer. Mit etwas Glück ist auch die Hausbank im Zielland mit einer Niederlassung vertreten. Nützliche Ratschläge und zum Teil geprüfte Kontaktempfehlungen halten weiterhin mehrere öffentliche Internet-Portale bereit - beispielsweise www.ixpos.de und www.e-trade-center.com von der Bundesagentur für Außenwirtschaft. Bei der Überprüfung eines potenziellen Kandidaten sollte neben den "harten" Faktoren - wie zum Beispiel seiner finanziellen Stabilität - stets auch auf die "weichen" Faktoren geachtet werden. Wie sah der Weg des Unternehmens und der seiner Führung vor dem Fall des eisernen Vorhangs aus? Gibt es möglicherweise politische Altlasten der Akteure, die man besser kennen sollte? Wurde schließlich der ideale Kooperationspartner gefunden, sind vor allem klare Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums und zu dessen wechselseitiger Nutzung festzulegen. Hierbei erweisen sich insbesondere Schiedsklauseln als praktikabel, denn in Osteuropa bei Streitigkeiten den Gerichtsweg einzuschlagen, kann mitunter recht langwierig und wenig erfolgversprechend sein.

"Der Aufbruch in den Osten darf kein Rettungsversuch sein,
um das angeschlagene Mutterunternehmen zu sanieren."

Krisennavigator: Neben dem Justizwesen scheint auch die öffentliche Verwaltung den Anpassungsprozess noch lange nicht abgeschlossen zu haben. Gleichwohl kommen Investoren aus Westeuropa nicht selten mit falschen Vorstellungen in den EU-Beitrittsländern an. Auf welche Risiken müssen sich deutsche Unternehmer in Osteuropa gefasst machen?

Dr. Mackebrandt: Natürlich existieren die normalen unternehmerischen Risiken westlicher Märkte auch in Osteuropa. Hierzu zählen Forderungsausfälle genauso wie illoyale Mitarbeiter. Daneben werden Firmen in Osteuropa aber auch mit Risiken konfrontiert, die in Westeuropa weniger relevant sind. Schenkt man neueren Untersuchungen Glauben, so soll die Korruption in Polen schlimmer sein als auf Kuba oder in El Salvador. Auch Geldwäsche, Subventionsbetrug, Produktpiraterie und die Organisierte Kriminalität sind in Osteuropa wesentlich weiter verbreitet als in vielen westeuropäischen Staaten. Wenig transparent sind zuweilen die Entscheidungen der Verwaltung. Schnelle, unorthodoxe und unbürokratische Regelungen, die deutschen Unternehmen heute den Standortwechsel schmackhaft machen, können schon morgen ebenso schnell, unorthodox und unbürokratisch geändert werden. Ohne lokale Partner vor Ort wird es deutschen Unternehmen schwer fallen, ein Netzwerk mit entsprechenden Frühwarnindikatoren vor "bürokratischen Diskontinuitäten" aufzubauen oder auch nur ein hinreichendes landeskundliches Verständnis für die Mentalitäts- und Verhaltensunterschiede im Zielland zu entwickeln.

Krisennavigator: Während große Unternehmen meist nur einen zusätzlichen Standort in Osteuropa eröffnen, verlagern kleine und mittelständische Betriebe zum Teil ihre gesamte Produktion dorthin. Was sollten gerade diese Betriebe berücksichtigen, damit sie durch ihr Engagement im Osten ihre Basis im Inland nicht unnötig schwächen?

Dr. Mackebrandt: Sicherlich darf der Aufbruch in den Osten kein Rettungsversuch des Mutterunternehmens sein, einen angeschlagenen Betrieb im Inland zu sanieren. Schließlich ist die Verlagerung ganzer Produktionsanlagen in Richtung Osten kein Wohnungsumzug in das Haus gegenüber, sondern ein erheblicher logistischer Kraftakt. In der Regel übersteigen die hohen Anlaufverluste die unmittelbar realisierbaren Kosteneinsparungen durch niedrigere Löhne, Mieten etc. in der Anfangszeit um ein Vielfaches. Der Versuch, anhaltende Verluste im Inland durch ad-hoc-Gewinne im Ausland kurzfristig zu kompensieren, muss somit zwangsläufig scheitern. Außerdem liegen die wirklichen Krisenursachen von Betrieben nur selten in den angeblich zu hohen Lohnkosten. Meistens stimmen die strategische Ausrichtung und die operative Marktbearbeitung des Unternehmens nicht mehr. Gerade kleine und mittelständische Betriebe unterschätzen vielfach auch die Folgekosten einer Betriebsstättenverlagerung. Mal werden ganze Produktionsstraßen in den Osten geschafft, ohne dass vor Ort ausreichend Servicetechniker des Maschinenlieferanten für den Notfall vorhanden sind. Mal fehlt es im Zielland an einem leistungsfähigen Beschaffungsmarkt, so dass Rohstoffe und Vorprodukte aus dem Heimatland an den neuen Standort transportiert werden müssen. Auch die Überbrückung der räumlichen Trennung zwischen Forschung und Entwicklung im Inland und Fertigung im Ausland ist keineswegs eine triviale Aufgabe.

"Die EU-Beitrittsländer werden letztlich daran gemessen, inwieweit
sie auch langfristig ein positives Investitionsklima schaffen."

Krisennavigator: Schon heute verlagern ungarische Unternehmen Teile ihrer Produktion nach Rumänien, weil dort die Lohnkosten zur Zeit noch niedriger sind. Könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass die derzeitigen Standortvorteile osteuropäischer Länder gegenüber Westeuropa schon bald nicht mehr bestehen werden?

Dr. Mackebrandt: Die internationale Arbeitsteilung entwickelt sich rasant. Die Zeiträume, in denen Standortvorteile überdacht werden sollten, verkürzen sich rapide. Gleichwohl wäre es zu kurzsichtig, die Wahl des Standorts nur am Faktor "Lohnkosten" festzumachen. Sicherlich sind die durchschnittlichen Lohnkosten in Rumänien niedriger als in Ungarn. Selbst in Ungarn betragen sie im Durchschnitt gerade einmal ein Sechstel des deutschen Werts. Wenn man den diversen Prognosen glauben darf, werden sie sich nur relativ langsam dem westlichen Niveau annähern, so dass Osteuropa auf absehbare Zeit für viele westliche Unternehmen ein reizvoller Standort bleiben wird. Doch nur auf die Lohnkosten zu schauen, wäre zu kurz gedacht. Auch ein noch unerschlossener Markt vor Ort oder momentane steuerliche Vorteile müssen nicht von Dauer sein. Letztendlich werden die EU-Beitrittsländer daran gemessen, inwieweit sie die Aufgaben der Bestandspflege meistern und auch langfristig ein positives Investitionsklima schaffen.

Krisennavigator: Trotz der derzeitigen Aufbruchsstimmung und Gründungseuphorie sind Unternehmenszusammenbrüche auch in Osteuropa nicht auszuschließen. Können sich deutsche Unternehmen - als Gläubiger wie als Schuldner - dort auf ein geregeltes Insolvenzverfahren verlassen?

Dr. Mackebrandt: Momentan deuten alle Zeichen auf eine voraussichtliche Gültigkeit des europäischen Insolvenzrechts auch in den EU-Beitrittsländern hin. Wichtiger als das Insolvenzrecht ist jedoch ein systematisches Kreditorenmanagement, um einen Forderungsausfall möglichst zu vermeiden. Die Zahlungen aus der Insolvenzquote werden in aller Regel keinen wirklichen Trost spenden. Gerade die oftmals schwierige Durchsetzung gerichtlicher Forderungen in vielen Ländern Osteuropas - wegen Mängeln im Justizwesen und der deutlich schlechteren Zahlungsmoral - sollten dazu anregen, in diesen Märkten besonders umsichtig zu agieren. Auslandsaktivitäten machen das Leben eben nicht grundsätzlich einfacher - insbesondere nicht für kleine und mittelständische Unternehmen.

Krisennavigator: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Ansprechpartner

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Telefon: +49 (0)30 20 64 37 - 0
Telefax: +49 (0)30 20 64 37 - 270
Internet: www.cms-ag.de
E-Mail: lutz.mackebrandt@cms-ag.de

Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
7. Jahrgang (2004), Ausgabe 10 (Oktober)

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Letzte Aktualisierung: Freitag, 29. März 2024

       

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